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Das Baugewerbe gehört seit jeher zu den Branchen, in denen es am häufigsten zu Arbeitsunfällen mit schweren Verletzungen oder Todesfolge kommt. Allein für das Jahr 2020 führt die Unfallstatistik der DGUV 130.970 meldepflichtige und 97 tödliche Arbeitsunfälle auf, die von der BG Bau (Berufsgenossenschaft der Bauwirtschaft) gemeldet wurden. Um Unfälle zu vermeiden, ist das arbeitgebende Unternehmen verpflichtet, eine Gefährdungsbeurteilung durchführen zu lassen. Welche Faktoren dabei eine Rolle spielen und welche gesetzlichen Grundlagen bei der Gefährdungsbeurteilung für eine Baustelle gelten, lesen Sie in diesem Beitrag.
Baustellen bergen ein erhöhtes Sicherheitsrisiko
Unabhängig von der Branche ist jeder Betrieb dazu verpflichtet, für sämtliche Abläufe eine Gefährdungsbeurteilung durchzuführen. Dazu gehört zum Beispiel die Beurteilung von Maschinen, innerbetrieblichen Verkehrswegen oder Lagereinrichtungen, aber auch die Kontrolle der Einhaltung ergonomischer Richtlinien am Arbeitsplatz und die Prüfung von Auswirkungen der Arbeit auf die Psyche von Mitarbeitenden. Zudem müssen die Flucht- und Rettungspläne im Betrieb sowie eine vorschriftsmäßige Ausstattung mit Feuerlöschern gegeben sein.
Im Bauwesen sind Gefährdungsbeurteilungen besonders wichtig, da Höhenarbeit, der Einsatz von leistungsstarken Maschinen oder der Umgang mit Gefahrstoffen ein großes Sicherheitsrisiko bergen. Das bestätigen die DGUV-Unfallstatistiken vergangener Jahre: In der Berufsgruppe der Baukonstruktionsberufe treten die meisten meldepflichtigen Arbeitsunfälle auf. Um die Gesundheit von Mitarbeitenden auf dem Bau zu schützen, ist eine Beurteilung und Abwendung möglicher Gefahren unerlässlich. In diesem Zuge wird beispielsweise auch geprüft, ob Erste-Hilfe-Ausrüstungvorhanden ist, damit im Ernstfall entsprechende Erste-Hilfe-Maßnahmen ergriffen werden können.
Wie läuft eine Gefährdungsbeurteilung ab?
Die Beurteilung muss erfolgen, bevor die Arbeit auf der Baustelle aufgenommen wird. Dafür eignet sich besonders der Planungsprozess der Baustelleneinrichtung. Denn wenn Sie von vornherein mögliche Gefahren mit Gegenmaßnahmen abwenden oder reduzieren, können Sie die Gesundheit Ihrer Mitarbeitenden präventiv schützen.
Ein allgemeingültiges Beispiel für die Gefährdungsbeurteilung einer Baustelle lässt sich aufgrund der vielen unterschiedlichen Tätigkeiten im Bauwesen kaum finden.
Ob Hochbaufachkraft auf der Baustelle, Dachdeckerin oder Dachdecker, Elektrikerin oder Elektriker: Die Gefährdungsbeurteilung unterscheidet sich je nach Gewerk. Die beste Orientierung bieten die Handlungshilfen, die Sie auf der Website der BG Bau oder in der Datenbank der BAuA (Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin) für alle wichtigen Arbeitsbereiche und Tätigkeiten im Baugewerbe erhalten. Sie liefern Anregungen für das Festlegen individueller Gefährdungsfaktoren, die sich je nach Aufgabenbereich unterscheiden.
Für eine erste systematische Kategorisierung können Sie folgende Faktoren nutzen:
- Mechanische Gefährdungen
- Elektrische Gefährdungen
- Gefahrstoffe, Brand- und Explosionsgefahr
- Biostoffe
- Thermische Gefährdungen
- Gefährdungen durch physikalische Einwirkungen
- Gefährdungen durch Arbeitsumgebungsbedingungen
- Physische Belastung
- Psychische Faktoren
- Arbeitszeitgestaltung
Als wichtige Akteure im Arbeitsschutz erfüllen Sicherheitsbeauftragte eine zentrale Rolle bei der Beurteilung und Vermeidung von Gefahren. Unternehmen mit mehr als 20 Mitarbeitenden sind laut DGUV 1 verpflichtet, Personen für diese Tätigkeit bereitzustellen. Sicherheitsbeauftragte haben keine Weisungsbefugnis, sondern eine beratende und unterstützende Funktion. Die Tätigkeit erfolgt ehrenamtlich und zusätzlich zu den eigentlichen Arbeitsaufgaben.
Wie mögliche Gefährdungen auf der Baustelle beurteilt werden
Inhaltlich orientiert sich das Vorgehen bei einer Gefährdungsbeurteilung an den individuellen Gegebenheiten vor Ort, Ihrem Betrieb und der konkreten Arbeitsaufgabe. Ein Schema hierfür ist im Abschnitt 5 der TRBS 1111 festgelegt und beinhaltet folgende Vorgehensweise:
- Vorbereitung
• Betrachtungsbereiche festlegen: Abteilung, Arbeitsplatz oder Tätigkeit, die beurteilt werden soll (vergleichbare Abläufe bzw. Arbeitsbedingungen können zusammengefasst werden)
• Informationsgrundlage schaffen: relevante Gesetze und Verordnungen, betriebsinterne Unterlagen (Prüfprotokolle von Maschinen, Gefahrstoffverzeichnisse und IP-Schutzarten, Krankheits- und Unfallmeldungen des Personals etc.), Herstellerinformationen zu Maschinen und Arbeitsmitteln - Gefährdung ermitteln
• Identifikation aller Faktoren, die im zuvor festgelegten Bereich eine Gefährdung darstellen, z. B. tätigkeitsbezogen (Arbeiten in der Höhe, Alleinarbeit, Hygieneanforderungen, Umgang mit Gefahrstoffen), ergonomisch (Arbeitsplatzgestaltung, Arbeitsmittel), organisatorisch (Arbeitszeit, Verfahren und Abläufe) sowie physisch und psychisch (Auswirkungen der Arbeit auf die körperliche und mentale Gesundheit)
• nicht nur Beschäftigte, sondern ggf. auch Gäste oder unbeteiligte Dritte berücksichtigen
• Gefährdungsermittlung erfolgt durch Baustellenbegehung, Prüfung der Arbeitsmittel und Befragung von Mitarbeitenden - Gefährdung beurteilen
• Bewertung des Risikos mit einheitlichem Maßstab (z. B. einen Zahlenwert von eins bis fünf vergeben, um „gering“ bis „hoch“ zu kennzeichnen)
• Beurteilung von bereits umgesetzten Schutznahmen - Schutzmaßnahmen festlegen und umsetzen
• neue Maßnahmen festlegen (Rangfolge nach dem STOP-Prinzip einhalten)
• Verantwortliche und Zeitrahmen für die Umsetzung festhalten
• Priorisierung der Maßnahmen nach Risikobewertung
• Qualifikation der Mitarbeitenden (Schulung, Weiterbildung, Unterweisung) - Prüfung und Dokumentation
• Umsetzung der Maßnahmen prüfen und den Erfolg beurteilen
• falls nötig, weitere Schutzmaßnahmen festlegen
• Ergebnisse der Prüfung dokumentieren
• Prüfung mit Datum und Unterschrift bestätigen
Welche Schutzmaßnahmen folgen nach der Gefährdungsbeurteilung?
Die Schutzmaßnahmen, die innerhalb der Gefährdungsbeurteilung festgelegt werden, richten sich in Art und Umfang nach den festgestellten möglichen Gefahren. Dabei müssen Sie immer nach dem sogenannten STOP-Prinzip vorgehen:
- Substitution: Tätigkeit einstellen (oder bestimmte Rohstoffe nicht mehr verwenden) und durch ein Verfahren mit geringerer Gefährdung ersetzen
- Technische Maßnahmen: bauliche oder verfahrenstechnische Veränderungen, die Mitarbeitende besser schützen (z. B. Schutzwände, Absaugen von Feinstaub)
- Organisatorische Maßnahmen: Veränderungen der Arbeitsabläufe, die bewirken, dass Mitarbeitende der Gefährdung nur ausgesetzt sind, wenn es unbedingt nötig ist (z. B. Zugangsbeschränkungen, erhöhte Wartungsintervalle, begrenzte Arbeitsdauer)
- Personenbezogene Maßnahmen: Bereitstellen von persönlicher Schutzausrüstung wie Atemschutz, Schutzbrille oder Absturzsicherung
Wichtig ist, dass Sie diese Maßnahmen entsprechend ihrer Rangfolge in Betracht ziehen. Das heißt, Sie müssen immer zuerst überlegen, ob eine Substitution der Tätigkeit oder des Arbeitsmittels möglich ist. Nur wenn dies erwiesenermaßen nicht infrage kommt, können Sie Schutzmaßnahmen der darunterliegenden Stufe ergreifen. So dürfen Sie Beschäftigte nur zum Tragen einer PSAgA (persönlichen Schutzausrüstung gegen Absturz) verpflichten, wenn vor Ort weder ein Gerüst aufgestellt noch eine andere bauliche Absicherung angebracht werden kann.
Wie ist die Gefährdungsbeurteilung von Baustellen in Gesetzen verankert?
Die allgemeine gesetzliche Grundlage ist das Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG), das in § 3 jedes arbeitgebende Unternehmen dazu verpflichtet, „eine Verbesserung von Sicherheit und Gesundheitsschutz der Beschäftigten anzustreben“. Entscheidend ist jedoch § 5, in dem die Pflicht zur Beurteilung der Arbeitsbedingungen festgelegt ist. Danach hat das arbeitgebende Unternehmen zu ermitteln, welchen Gefährdungen die Arbeitnehmenden bei der Ausübung ihrer Arbeit ausgesetzt sind. Sowohl die Gefährdungsbeurteilung selbst als auch die daraus abgeleiteten Maßnahmen zum Arbeitsschutz müssen lückenlos dokumentiert und regelmäßig auf ihre Aktualität geprüft werden.
Darüber hinaus gibt es weitere Verordnungen und Regeln, die auf den grundsätzlichen Bestimmungen des ArbSchG aufbauen und diese für einzelne Branchen und Arbeitsbereiche konkretisieren:
- In der Arbeitsstättenverordnung (ArbStättV) ist geregelt, dass die oben genannten Pflichten eines Unternehmens auch für Arbeitsplätze auf Baustellen sowie alle für die Mitarbeitenden zugänglichen Orte gelten.
- Die Betriebssicherheitsverordnung (BetrSichV) enthält im Abschnitt 2 (§§ 3 bis 14) ausführliche Regelungen zur Gefährdungsbeurteilung und geeigneten Schutzmaßnahmen. Darauf basiert die Technische Regel für Betriebssicherheit TRBS 1111, die konkrete Hinweise zur praktischen Umsetzung enthält.
- Die DGUV Vorschrift 2 ist der Teil der Unfallverhütungsvorschrift, der sich mit dem betriebsärztlichen Dienst und Fachpersonal für Arbeitssicherheit beschäftigt. Hier ist unter anderem festgelegt, dass jeder Betrieb bei der Erstellung und Aktualisierung einer Gefährdungsbeurteilung entsprechend ausgebildete Sachverständige hinzuziehen muss. Üblicherweise handelt es sich dabei um einen Betriebsarzt bzw. eine Betriebsärztin und eine Fachkraft für Arbeitssicherheit bzw. Sicherheitstechnik.
- Die Gemeinsame Deutsche Arbeitsschutzstrategie (GDA), eine gemeinsame Plattform von Bund, Ländern und Unfallversicherungsträgern, hat in der Leitlinie „Gefährdungsbeurteilung und Dokumentation“ allgemeine Faktoren und Qualitätskriterien für die Durchführung einer Gefährdungsbeurteilung festgelegt.
- Ganz konkrete und praktische Hilfe bei der Umsetzung bieten die Handlungshilfen der Unfallversicherungsträger. In ihnen werden die allgemeingültigen Bestimmungen zu Gefährdungsbeurteilung und Arbeitssicherheit auf einzelne Branchen, Tätigkeiten oder Gefährdungsfaktoren angewendet.
- Hinzu kommen gegebenenfalls branchespezifische oder situationsabhängige Gesetze, wie zum Beispiel die Gefahrstoffverordnung oder das Mutterschutzgesetz.
Sowohl staatliche Aufsichtsbehörden als auch die Träger der gesetzlichen Unfallversicherung sind dazu berechtigt, Maßnahmen zum Arbeitsschutz in Unternehmen und auf Baustellen zu kontrollieren. Dabei wird auch geprüft, ob die Gefährdungsbeurteilung vorschriftsgemäß durchgeführt und dokumentiert wurde.
FAQ zur Gefährdungsbeurteilung auf der Baustelle
Generell ist jeder Betrieb dazu verpflichtet, für sämtliche Abläufe und Arbeitsstätten eine Gefährdungsbeurteilung durchzuführen. Auf Baustellen ist das besonders wichtig, denn hier sind die meisten Unfälle mit Personenschäden zu verzeichnen.
Um das Unfallrisiko so gering wie möglich zu halten, muss eine Beurteilung möglicher Gefahren im Zuge der Baustelleneinrichtung erfolgen, bevor die Arbeit auf der Baustelle überhaupt aufgenommen wird.
Der Betrieb muss ermitteln, welchen Gefährdungen die Beschäftigten bei der Ausübung ihrer Arbeit ausgesetzt sind. Dabei muss er ausgebildete Sachverständige hinzuziehen, z. B. einen Betriebsarzt bzw. eine Betriebsärztin oder eine Fachkraft für Arbeitssicherheit. Diese werden sowohl bei der Erstellung als auch bei der Aktualisierung einer Gefährdungsbeurteilung tätig.
Sind mehrere Betriebe gleichzeitig auf einer Baustelle beschäftigt, kann gemeinsam ein sachverständiger Verantwortlicher bestimmt werden.
Folgende Gesetze und Vorschriften gelten in Deutschland: Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG), Arbeitsstättenverordnung (ArbStättV), Betriebssicherheitsverordnung (BetrSichV) und TRBS 1111, DGUV Vorschrift 2 sowie die Handlungshilfen der Unfallversicherungsträger, branchespezifische oder situationsabhängige Gesetze wie zum Beispiel die Gefahrstoffverordnung oder das Mutterschutzgesetz.
Bitte beachten Sie: Die hier erwähnten Vorschriften sind nur eine Auswahl der wichtigsten gesetzlichen Vorgaben. Detaillierte Informationen lesen Sie dazu in den aufgeführten und ggf. weiteren Vorschriftensammlungen und Gesetzestexten nach. Bei der konkreten Umsetzung im Betrieb können und sollten im Zweifel außerdem Sachverständige hinzugezogen werden.
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